Chinesische Touristen

11. Januar 2024 •

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Die Rückkehr des chinesischen Touristen?

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Dieser zweite Teil der dreiteiligen Serie über China der Reihe «Institutional Visibility» der EHL befasst sich mit der lang erwarteten Rückkehr chinesischer Touristen. Es befasst sich auch mit sich verändernden Trends in der chinesischen Reisebranche. Tiefere Einblicke gewährt uns Dr. Yong Chen, ausserordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaften an EHL Hospitality Business School.

Die Blütezeit des chinesischen Tourismus

Chinas Aufstieg zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 gab Anlass zu Optimismus für weitere wirtschaftliche und kulturelle Offenheit. Dieser Zeitraum war sowohl im Outbound- als auch im Incoming-Tourismus von deutlich höheren Umsätzen geprägt. Laut Prof. Chen werden wir möglicherweise in ein paar Jahren auf die Zeit von 2010 bis 2019 als das «goldene Zeitalter» des chinesischen Tourismus zurückblicken. Dieses rosige Jahrzehnt ist nach Auffassung von Chen zu einem gewissen Grad in eine gedrückte Stimmung umgeschlagen. In der Tat haben eine Reihe von Faktoren den chinesischen Outbound-Tourismus eingeschränkt. Die Pandemie, Chinas Null-Covid-Politik, die Proteste in Hongkong 2019-20, der anhaltende Handelskrieg zwischen den USA und China und Chinas weiteres Abgleiten in den Autoritarismus tragen zum Isolationismus bei, der sich auf den Tourismus auswirkt. «Wirkt sich die Feindseligkeit auf den Tourismus aus», fragt Chen rhetorisch: «Absolut». Er fügte hinzu: «Tourismus ist ein Aspekt der Globalisierung, also sind Menschenströme ein Gut wie jedes andere und schaffen Verbindungen zwischen den Menschen. Diese Verknüpfungen gibt es nicht mehr.»

 

«Wir erleben eine rückläufige Entwicklung»

Diese Veränderung ist in den Strassen Pekings sichtbar. «Es gibt weniger Ausländer in China als zuvor», betont Chen, «jeder Taxifahrer wird Ihnen das bestätigen». Warum? Zunächst einmal benötigt jeder in China ein Smartphone mit einer lokalen Telefonnummer, um mit WeChat oder Alipay zu bezahlen, da Visa oder Mastercard von den meisten Unternehmen nicht akzeptiert werden. Trotz 5.000 Jahren Geschichte und atemberaubender Landschaften, die es mit der Welt zu teilen gilt, «hindern diese Einschränkungen Ausländer daran, nach China zu reisen», beklagt Chen. «In China erleben wir einen Rückschritt auf dem Weg zum Wohlstand.»

Auch das Reisen ins Ausland für die chinesische Bevölkerung wurde erschwert. Die Bürokratie hat den Prozess zur Erteilung von Visa erheblich verlangsamt. Laut Reuters [auf Englisch] betragen die Visaanträge aktuell nur 35 % ihres Niveaus vor der COVID-19-Pandemie. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens McKinsey sind etwa 20 % der chinesischen Pässe während der Pandemie abgelaufen [auf Englisch], was zu längeren Verzögerungen und verspäteten Reiseplänen führt. Während die Regierung im Januar 2023 die Reisebeschränkungen gelockert hat, ist die Zahl der Flüge nach und aus China nicht auf das Niveau vor der COVID-19-Pandemie zurückgeschnellt. Fluggesellschaften sind zurückhaltend, wenn es darum geht, weitere Flüge hinzuzufügen, was die Preise hoch gehalten hat.

 

«Konflikt ersetzt Kooperation»

Das Wesen des Tourismus in China und für die Chinesen, die sich immer noch ins Ausland wagen, verschiebt sich. Die grundsätzliche Übereinkunft zwischen Gastgeber und Gast ist gefährdet. Für Chen «geht es beim Tourismus aus China nicht nur um das Einkommensniveau, sondern auch um andere Faktoren wie die Geopolitik. Globaler Protektionismus ersetzt Zusammenarbeit und das die Hospitality-Branche stützende gegenseitige Verständnis.» Themen wie Taiwan und der Krieg in der Ukraine schüren Misstrauen: «Die Atmosphäre in den westlichen Ländern ist für Chinesen nicht mehr so einladend. Konflikt ersetzt Kooperation», schliesst Chen.

Wo geht die Reise also hin? «Angesichts des Tons des gegenwärtigen Jahrzehnts kann der Tourismus in einem so spannungsgeladenen Umfeld nicht gedeihen oder überleben. Und es wäre unrealistisch, dass die chinesischen Touristenzahlen in den nächsten vier oder fünf Jahren auf das Niveau vor der COVID-19-Pandemie zurückkehren,» warnt Prof. Chen. Und wie sieht es im Gastgewerbe aus? «Diese unfreundliche Atmosphäre ist wirklich schlecht für den Tourismus, nicht für alle Wirtschaftsbranchen, sondern für alle, die eine menschliche Interaktion erfordern, und ich glaube nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird», ergänzt er.

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Wie sieht es bei Geschäftsreisen aus?

Der schrumpfende Welthandel führt dazu, laut Chen, dass Misstrauen Geschäftsreisen «offensichtlich» untergraben wird. Im Vergleich zu den Boom-Zeiten der 1990er Jahre, in denen multinationale Unternehmen sowie kleinere Unternehmen aufgrund der zunehmenden Offenheit des Landes für die Globalisierung nach China strömten, warnt Chen: «Die langfristigen Aussichten sind meines Erachtens nicht optimistisch; die Politik kann sich so schnell ändern und Unsicherheit schaffen.» Auch wenn der chinesische Markt mit einer Bevölkerung auf Augenhöhe von der in ganz Europa attraktiv bleibt, «könnte 2020-2030 eine sehr schwierige Zeit für China werden; es könnte die schlimmste Zeit für China werden», schliesst Chen.

 

Nicht der Europa-Urlaub der Eltern

Die Trends bei Auslandsreisen verändern sich ebenfalls. Jüngere chinesische Touristen, von denen viele bereits mit ihren Eltern ins Ausland gereist sind, unternehmen viele, jetzt da sie erwachsen sind, diese Reisen auf eigene Faust. Kurz gesagt, keine 08/15 Reisegruppen mehr! Laut der oben genannten McKinsey-Studie verzichten chinesische Touristen auf Destinationen, die sie bereits besucht haben, um Neues zu entdecken. Entsprechend dem globalen Trend sind chinesische Touristen auf der Suche nach Abenteuer und Erlebnissen, einschliesslich (nach Wichtigkeit geordnet) Outdoor-Ausflüge und Landschaftserkundung, Sightseeing, kulinarische Erlebnisse, Geschichte, Strände/Resorts, Gesundheit/Wellness und – so kurz nach den Olympischen Spiele in Peking – sogar Wintersport. Wie recherchieren sie potenzielle Reiseziele? Im Zeitalter der Hyperdigitalisierung schauen sie sich natürlich Kurzvideos an: Laut einer chinesischen Zeitung [auf Englisch] wurden 30 % der mobilen Internetzeit für TikTok-ähnliche Videos aufgewendet.

 

Tourismusvolumen von 2019 bis 2024 halbiert

Laut dem im Juli 2020 veröffentlichten UNWTO World Tourism Barometer bildete China mit 254,6 Mrd. USD die mit Abstand grösste Quelle für internationale Reiseausgaben in der Welt, gefolgt von den Vereinigten Staaten (152,3 Mrd. USD), Deutschland (93,2 Mrd. USD) und dem Vereinigten Königreich (71,0 Mrd. USD). Aber das war vor COVID. Laut einem im September veröffentlichten Artikel sank die Zahl der Chinesen, die die Vereinigten Staaten besuchten [auf Englisch], von 2,8 Millionen im Jahr 2019 auf nur 192.000 während des Höhepunkts der Covid-Lockdowns im Jahr 2021. Das US-amerikanische National Travel & Tourism Office schätzt, dass diese Zahl bis 2023 auf 850.000 und bis 2024 auf fast 1,4 Millionen steigen wird.

McKinsey forderte die Hoteliers im Mai 2023 auf, sich vorzubereiten, dass die «chinesische Touristen bald zurückkehren». Na ja. Unabhängig davon deuten ihre Untersuchungen darauf hin, dass die Chinesen weniger Interesse an Reisen nach Europa haben und ihre Reiseabsichten auf den asiatisch-pazifischen Raum, nämlich Australien/Neuseeland, Südostasien und Japan richten – obwohl dieser Feststellung nicht für wohlhabendere Reisende gilt.

In der dritten Folge dieser Serie werden wir uns eingehend damit befassen, wie sich der Rückgang des chinesischen Outbound-Tourismus und die sich verändernden Trends auf bestimmte Urlaubsziele auswirken.

Geschrieben von

Übersetzer/Redakteur für die Abteilung für Bildung und Forschung der EHL

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